Leseprobe Kapitel III, Felix, der Erbe des Herschers
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Kapitel III
Etwas gerädert erwachte ich am nächsten Morgen. Die Sonne schien mir direkt ins Gesicht und hatte mich mit ihren hellen Sonnenstrahlen geweckt. Blinzelnd schaute ich auf die Uhr: Es war sieben Uhr! Höchste Zeit aufzustehen. Ich wollte heute zur Abwechslung pünktlich am Arbeitsplatz erscheinen.
Ich beeilte mich und schaffte es auch tatsächlich gegen acht Uhr mit meinem Fahrrad das Haus zu verlassen. Auf meinem Weg zur Arbeit stellte ich fest, dass viele Leute unterwegs waren.
Teils zu Fuß, teils mit dem Rad und einige sogar mit Elektroautos.
Allerdings konnte man diese Autos an einer Hand abzählen. Glücklich war der, der so ein Fahrzeug hatte.
Warum auch immer, aber diese Autos taten ihre Pflicht – im Gegensatz zu meinem Auto, das faul in der Garage stand und keinen Mucks von sich gab.
Einer spontanen Eingebung folgend wählte ich diesmal den Weg zur Arbeit durch die Innenstadt.
Auch wenn ich mich eigentlich beeilen sollte, konnte man nie wissen, ob ich nicht noch irgendetwas auf dem Weg zur Arbeit beobachten oder erleben konnte, was man als Bericht in die Zeitung bringen konnte.
Damit ich nicht unnötig viel Zeit verlor, trat ich kräftig in die Pedale und fuhr recht zügig. Mein Blick schweifte während der Fahrt hin und her, damit ich soviel wie möglich von der Umgebung wahrnahm.
Noch waren alle Geschäfte geschlossen, aber einige Schaufenster waren eingeschlagen. Glasscherben lagen auf dem Gehweg. Ich musste aufpassen, dass ich nicht dadurch fuhr und mir womöglich noch einen Plattfuß einhandelte.
Als ich an einer Bäckerei vorbei kam, lockte mich der leckere Duft frischer Backwaren vom Rad. Ich huschte schnell hinein und kaufte mir einige belegte Brötchen.
Beim Bezahlen stellte ich fest, dass ich dringend wieder zur Bank musste, um mir Bargeld zu holen.
Ich schaute auf die Uhr, ich lag gut in der Zeit und entschied, einfach zur nächsten Bank zu fahren, die nicht weit von der Bäckerei entfernt war.
Bis neun Uhr war ich auf jeden Fall an meinem Arbeitsplatz!
Als ich die Bank betrat, waren erst wenige Kunden zugegen. Ich steuerte den Bankautomaten an und zog mir den gewünschten Betrag. Aus den Augenwinkeln heraus sah ich, wie ein maskierter Mann mit einer Waffe in der Hand die Bank. Ich stöhnte innerlich. Das durfte doch nicht wahr sein!
Konnte denn kein einziger Tag ruhig und normal verlaufen?
Fast hatte ich den Eindruck, dass ich die Katastrophen anzog!
Kaum war ich irgendwo, tauchte ein Verbrecher auf.
Allerdings war ich doch neugierig wie er die Bank überfallen wollte angesichts der Gefahr beim Gebrauch der Schusswaffe, sich selbst schwer zu verletzen.
Interessiert drehte ich mich um und schaute ihn an. Er richtete die Waffe auf mich und deutete an, mich auf den Boden zu legen. Ich schüttelte mutig, wenn auch mit mulmigem Gefühl, den Kopf und deutete auf die Tür und signalisierte ihm, zu verschwinden.
Verunsichert schaute er mich an. Damit hatte er wohl nicht gerechnet. Leider machte er keine Anstalten, wieder zu gehen.
Demonstrativ verschränkte ich meine Arme und schaute ihn bitterböse an und dachte intensiv daran, dass er seine Waffe fallen lassen solle.
Zu meinem großen Erstaunen fing seine Hand in der er die Waffe hielt, an zu zitterten und er ließ sie tatsächlich fallen. Hastig bückte er sich und hob sie wieder auf. Das gab ihm doch den Rest. Fluchtartig rannte er aus der Bank. Erleichtert atmete ich aus. Ich sah mich um. Kaum zu glauben, aber von den anderen Kunden in der Bank hatte niemand diese Szene mitbekommen.
Gedankenverloren verließ ich die Bank, denn ich wunderte mich schon ein wenig darüber, dass meine Gedanken mitunter Realität wurden.
„Sicherlich reiner Zufall“, dachte ich.
Ich schaute mich um, aber von dem gescheiterten Bankräuber war nichts mehr zusehen – von meinem Fahrrad allerdings auch nicht.
Ich hatte es nicht abgeschlossen, weil ich davon ausgegangen war, dass es in der Bank schnell ging.
Das war ein großer Fehler!
Wütend auf mich selbst machte ich mich zu Fuß auf den Weg zur Arbeit als ich sah, wie eine vollbesetzte Straßenbahn geräuschlos an mir vorbeifuhr. Ich erschrak. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich mitten auf die Straße gelaufen war.
Meine Augen hatten die Umgebung abgesucht, in der Hoffnung irgendwo mein Rad zu entdecken. Dabei hatte ich nicht auf den Weg geachtet, da ich einfach davon ausging, dass auf der Straße sowieso niemand fuhr.
Gedankenverloren schaute ich ihr hinterher.
Wieso fuhr die eigentlich?
Nachdenklich verließ ich die Straße und ging auf dem Bürgersteig weiter. Hatte die Straßenbahn etwas mit den Solarautos gemeinsam? Ich schaute auf die Gleisanlage. Dann sah ich die Oberleitung. Sie fuhr mit Strom!
Aber die Solarautos mit Sonnenenergie. So richtig konnte ich keinen Zusammenhang sehen.
In Gedanken vertieft ging ich weiter und bog in die nächste Straße ein. Abrupt blieb ich stehen.
Friedlich stand mein Fahrrad an einer Mauer gelehnt.
Allerdings gehörte diese Mauer zu einer Bank. Das durfte doch nicht wahr sein! Sollte der verhinderte Ganove etwa einfach die nächste Bank aufgesucht haben, um die dann zu überfallen?
Bevor ich die Bank betrat, schloss ich mein Rad ab.
Diesmal hatte der Bankräuber mehr Glück, denn als ich den Schalterraum betrat, lagen alle Kunden auf der Erde und eine Bankangestellte packte Geld in dem Beutel, den der Räuber ihr hinhielt.
Hektisch schaute er sich immer wieder um und bedrohte die verschreckten Menschen mit seiner Pistole.
Ich überlegte. Jetzt einzugreifen war viel zu gefährlich. Sollte es zu einer Kurzschlussreaktion kommen, würde Blut fließen. Auch wenn es nach meinen jetzigen Erkenntnissen das des Täters sein würde.
Fieberhaft überlegte ich eine Lösung. Gab es überhaupt eine? Er hatte mich noch nicht entdeckt, deswegen verließ ich schleunigst wieder die Bank.
Eine innere Stimme sagte mir:
„ Lass ihn laufen und misch dich nicht überall ein.“
Auf der anderen Seite mahnte mich mein Gewissen: „Wenn er damit durchkommt, wäre keine Bank mehr sicher! Du musst was tun!“
Während die innere Stimme mit meinem Gewissen stritt, trat der Bankräuber aus der Bank. Natürlich sah er mich sofort, denn schließlich stand ich an seinem Fluchtfahrtzeug, sprich meinem Fahrrad.
Zornig schaute er mich an und zielte mit der Pistole auf mich.
Mir trat der Angstschweiß auf die Stirn und ich hoffte, dass er nicht schießen würde. Auch wenn er mich wahrscheinlich nicht damit verletzen konnte, war es dennoch ein beängstigendes Gefühl, von einem bewaffneten Mann bedroht zu werden.
Während seine Hand, in der er die Pistole hielt zitterte, drückte er krampfhaft den Geldbeutel an sich. Nun bemerkte er, dass ich das Rad abgeschlossen hatte. Man sah es ihm förmlich an, wie sich seine Gedanken überschlugen. Dann drehte er sich um und rannte davon.
Was sollte ich jetzt tun?
Ihn verfolgen oder zur Arbeit fahren? Ich entschloss mich für den spannenderen Teil.
Die Verfolgung!
Ich schloss mein Rad auf und fuhr los.
Sofort tobte in meinem Kopf wieder ein Kampf zwischen meinem Mut und der Angst. Die Angst fluchte und beschwerte sich, dass ich mich immer in Dinge einmischte, die mir nichts angingen und obendrein mein Leben aufs Spiel setzte. Der Mut sah das natürlich ganz anders und verteidigte sich, dass doch überhaupt keine Gefahr bestünde und ich doch nur ein Verbrechen verhindern würde, was schließlich äußerst ehrenwert sei.
Ich blendete den Kleinkrieg aus und konzentrierte mich auf das, was als nächstes auf mich zukam, denn ich hatte den Räuber schnell eingeholt, was mit dem Fahrrad auch kein Kunststück war.
Ich blieb neben ihm und passte mich seiner Geschwindigkeit an. Noch gab er die Hoffnung nicht auf, mir doch noch zu entwischen, denn er lief weiter. Als er merkte, dass er mich nicht abschütteln konnte, hob er seine Pistole und feuerte.
Zum Glück ging der Schuss ins Leere, sodass er sich nicht verletzte.
Hartnäckig, wenn auch innerlich ziemlich erregt, blieb ich neben ihm.
Das brachte ihn irgendwann aus der Fassung.
Er gab noch mal einen Schuss ab.
Allerdings war seine Zielsicherheit sehr schlecht:
Rennen, Beutel festhalten und zielen war dann doch nicht so einfach. Darum schoss er sich in seinem Fuß. Wahrscheinlich hatte er auf meinen gezielt, aber so genau konnte ich das auch nicht sagen. Auf alle Fälle war es nun mit seiner Lauferei vorbei.
Entsetzt schaute er auf seinen Fuß. Aus seinem Schuh quoll Blut hervor.
Ich bremste mein Rad ab und deutete ihm an, endlich die Pistole fallen zu lassen. Er verstand mich nicht. Wieder hob er sie, um mich zu bedrohen.
Ich schüttelte den Kopf und sah ihn drohend an. Manche Leute lernen es nie! Doch dann senkte er sie wieder – zu meiner großen Erleichterung.
Ich wurde den Verdacht nicht los, dass ich bis jetzt auch ein wenig Glück gehabt hatte mit meinen Verbrechern. Offensichtlich waren es alle bislang Kleinkriminelle gewesen, die noch ein Gewissen hatten.
Jener jedenfalls gab auf und setzte sich schwer atmend und mit schmerzverzerrtem Gesicht auf die Erde. Den Beutel mit dem Geld hielt er aber immer noch fest umklammert.
Und jetzt?
Ich schaute mich um. Einige Leute waren stehen geblieben und hatten uns offensichtlich beobachtet. Doch als ich sie aufforderte, mir zu helfen, hatten sie es plötzlich alle sehr eilig, wegzukommen.
Umso überraschter war ich, als ich sah, wie drei Polizisten im Dauerlauf um die Ecke auf uns zukamen. Sie zückten ihre Waffen und richteten sie auf uns.
Auf uns!
Was sollte das denn jetzt?
Glaubten die denn, ich hätte die Bank überfallen. Fragend schaute ich sie an. Doch entschlossen deuteten sie mir an, die Hände hochzunehmen. Da ich nicht wollte, dass ihnen etwas passierte, befolgte ich ihren Anweisungen.
Ich glaubte es einfach nicht. Da verfolgte man einen Räuber und wird selbst verhaftet. Verrückt!
Abgesehen davon, dass ich schon wieder zu spät zur Arbeit kommen würde.
Es war ein kleiner Trost für mich, dass die Polizeistation direkt neben der Redaktion war, so war ich zumindest schnell da, wenn ich meine Aussage gemacht hatte.
Ich fand es nur ziemlich unverschämt, dass sie mir wie ein Verbrecher Handschellen angelegt hatten. Aber dann versetzte ich mich in ihre Lage und mir wurde klar, dass man durchaus glauben konnte, dass ich zu dem Langfinger gehören konnte.
Allerdings hatten die Polizisten, die zu Fuß angerannt gekommen waren das Problem, den verletzten Räuber zu transportieren. Laufen konnte er aufgrund seiner Schussverletzung am Fuß nicht mehr. Als Lösungsvorschlag deutete ich auf mein Rad als so eine Art Krankentransport, damit er nicht von den Polizisten getragen werden musste.
Die Idee kam auch gut an und so marschierten wir wie eine kleine Prozession zur Polizeistation. Ein Polizist fuhr auf meinem Rad, der Verletzte auf dem Gepäckträger, ich ging hinter dem Rad und hinter mir die anderen beiden Polizisten.
Ich dachte nur:
„ Seit ich nichts mehr hören kann, steht mein Leben völlig auf den Kopf. Überdies brauchte ich mich über mangelnde Abwechslung nicht beklagen.“
Wir kamen nur mühselig vorwärts, da der Dieb ziemliche Schmerzen hatte und wie verrückt auf dem Gepäckträger zappelte, sodass wir andauernd anhalten mussten. Nach einer gefühlten Ewigkeit kamen wir endlich an.
Zwei Polizisten trugen den Gauner ins Revier. Der dritte eskortierte mich ins Büro des Chefs. Erstaunt sah er mich an. Ich grinste und zuckte mit den Schultern. Er bedeutete dem Polizisten, mir die Handschellen abzunehmen. Dann schilderte ich ihm, wie immer via PC, was passiert war.
Als ich meine Aussage gemacht hatte, schaute ich auf meine Uhr. Oh Gott, es war schon wieder Mittag. Mein Chef würde mich erwürgen!
Herr Wolfmann fragte mich ironisch, ob es nicht sinnvoller wäre, wenn ich meinen Arbeitsplatz ins Präsidium verlagern würde, da ich doch jeden Tag dort auftauchen würde.
Grimmig schaute ich ihn an.
Dann fiel mir noch etwas ein und ich fragte ihn, wieso die Polizisten immer noch ihre Waffen benutzten, obwohl das doch viel zu gefährlich für sie sei. Er schmunzelte und meinte, dass sei lediglich zur Abschreckung.
Die Waffen wären selbstverständlich nicht geladen! Man wolle schließlich keine Opfer unter den Polizisten. Ich war beeindruckt! Es hatte schließlich gewirkt!
Ernst fügte er dann noch hinzu, dass leider die Information der Selbstverletzung bei Gewaltausübung nicht bei den Menschen angekommen war.
Auch bei seinen Kollegen in den anderen Polizeirevieren stießen diese Information nicht auf die gewünschte Einsicht und somit nicht auf den Verzicht geladener Waffen.
Anderorts glaubte man eher an Sabotage. Ich schüttelte ungläubig den Kopf über soviel Dummheit. Ich fragte ihn, ob ich nun gehen könne, da ich mich doch mal in der Redaktion sehen lassen müsse.
Er nickte und ich verließ sein Büro. Auf dem Flur kam mir einer der Polizisten entgegen, die mich verhaftet hatten.
Erstaunt, dass ich so ohne weiteres aus dem Revier spazierte, schaute er mich kritisch an. Ich grüßte ihn nett und verschwand. Allerdings fühlte ich seinen bohrenden Blick in meinem Rücken.
„Egal, denk was du willst“, dachte ich.
Draußen schnappte ich mir mein Rad und stellte dabei fest, dass es nicht abgeschlossen war. „Naja, so dreist wird keiner sein, direkt vor einer Polizeistation ein Fahrrad zu klauen“, dachte ich mir.
Ich marschierte direkt ins Büro meines Chefs und berichtete ihm mein morgendliches Erlebnis. Entgegen meiner Erwartung war er überhaupt nicht erbost über mein spätes Erscheinen.
Als ich mein Büro betrat, wurde mir auch klar, warum. Dennis saß einsam und verlassen an seinem Schreibtisch und war in seiner Arbeit vertieft.
Die anderen beiden fehlten.
„ Okay“, dachte ich, „ Peter war wahrscheinlich noch nicht fit genug. Aber was war mit Klaus?“
Ich fragte Dennis, ob er was wüsste. Er nickte und schrieb mir, dass die Frau von Klaus Panikattacken hatte und nicht alleine bleiben wollte. Darum war er wohl oder übel zuhause geblieben.
Ich fuhr meinen Rechner hoch und schaute entgeistert auf mein Postfach. Es quoll förmlich über vor Mails. Da Dennis Peters Mails bearbeitete, musste ich mich um die von Klaus kümmern.
Auch dort war eine Unmenge von Mails angekommen, die bearbeitet werden mussten.
Doch irgendwie konnte ich mich nicht richtig auf die Arbeit konzentrieren. Vielmehr ging mir der Gedanke nicht aus dem Kopf, wieso einige Dinge funktionierten, andere wiederum nicht.
Ich musste diesem Phänomen unbedingt auf den Grund gehen.
Vielleicht halfen mir die Mails bei der Lösung.
Allerdings war das nicht so einfach, weil alle nur über das herrschende Chaos berichteten. Es breitete sich immer mehr aus. Einige schrieben, dass es immer schwieriger wurde, Mails zu versenden. Ständig brach das Stromnetz zusammen. Aber das war nicht das einzige Problem.
Durch Hamsterkäufe war es in etlichen Teilen der Welt zu Lebensmittelengpässen gekommen. Es fehlte der Nachschub. Dieser musste mühselig mit Pferdewagen vom Land in die Städte gebracht werden.
Das Exportieren von verderblichen Lebensmitteln war überhaupt nicht mehr möglich, da keine Flugzeuge flogen.
Auch der Seeweg war nur noch begrenzt nutzbar, da keine anderen Schiffe außer Segelschiffe fahrbereit waren. Die Motoren sprangen einfach nicht an. So konnten viele Produkte nicht mehr exportiert werden.
Abgesehen von den logistischen Problemen schien die Gewalt immer mehr zuzunehmen. Einige Korrespondenten schrieben, dass sie um ihre Sicherheit fürchteten und Land verlassen wollten.
Da sich jene in Krisengebiete befanden, war das durchaus nachvollziehbar. Ohne Hörvermögen mit Blick auf ein sich anbahnendes Desaster war das sicherlich vernünftig.
Ich hielt inne.
War das Stummschalten der Welt erst der Anfang einer sich anbahnenden Katastrophe?
In jeder Mail nur Hiobsbotschaften!
Man hatte den Eindruck, dass die Welt aus den Fugen geriet.
Ich schaute auf mein immer noch gefülltes Postfach. Ich brauchte die Mails nicht weiter zu lesen.
Ich überlegte und schüttelte den Kopf. Sollte man wirklich diese ganzen Horrormeldungen in der Zeitung abdrucken? Konnte man den Menschen in ihrer ohnehin schwierigen Lage all diese schlechten Nachrichten noch zumuten.
Gab es denn nichts positives, was man schreiben konnte?
Nein! Ich hatte nichts gelesen!
Auch in unserer Stadt bemerkte man eine beginnende Unordnung und Gesetzlosigkeit. Die Warnungen, die wir in unserer Zeitung veröffentlicht hatten, wurden entweder nicht gelesen oder nicht ernst genommen.
Vielerorts war selbst die Polizei nicht davon abzubringen, ihre Waffen geladen mit sich herumzuführen.
Aus den vielen Mails war herauszulesen, dass die Menschen an eine von Menschenhand herbeigeführte Sabotage glaubten.
Ein Großangriff auf die Macht?
Es fiel mir schwer, das zu glauben!
Dafür war das Ausmaß zu gigantisch!
Wer soviel Macht besaß, die ganze Welt ins Chaos zu stürzen, hatte sie auch in der Hand, das war klar!
Ich hoffte innig, dass es eine andere Erklärung für all das geben würde.
Vielleicht doch ein Virus!
Man wusste, dass die Wissenschaftler ständig mit irgendwelchen Viren experimentieren.
In Zeiten der Globalisierung konnte sich ein gefährlicher Virus sehr schnell ausbreiten.
Aber so schnell?
Für mich ergab das alles keinen Sinn.
Ich hatte das Gefühl, dass ich mich gedanklich im Kreis drehte.
Ich rieb mir meine brennenden Augen. Die Bildschirmarbeit strengte an.
Ich schaute zu Dennis. Er war aufgestanden und machte sich einen Kaffee. Das war eine gute Idee. Ich stand ebenfalls auf und gab ihm ein Zeichen etwas mehr Kaffee aufzusetzen.
Dann zog ich meine Zaubertafel hervor und fragte ihn, ob er schon wüsste, warum das allgemeine Stromnetz so instabil geworden war.
Bei uns und in den Nachbarstädten war es gestern zu teilweise massiven Stromausfällen gekommen. Um uns darüber zu informieren, war gestern Abend extra ein befreundeter Kollege meines Chefs mit dem Rad zu uns gefahren.
Ich vermutete aber, dass das nicht der einzige Grund war. Sicherlich wollte er auch Neues von uns erfahren. Meinungsaustausch auf ganz althergebrachte Weise. Ohne die Vorzüge der modernen Kommunikation.
Aber Dennis konnte sich auch keinen Reim daraus machen, wieso es immer wieder zu massiven Stromausfällen kam.
Selbst unter Berücksichtigung der Tatsache, dass Bietersbrück das große Glück hatte, schon seit vielen Jahrzehnten sehr vorausschauende und umweltbewusste Bürgermeister zu haben, die schon vor etlichen Jahren verstärkt auf erneuerbare Energie gesetzt und sehr großen Wert darauf gelegt hatten, dass der Naturschutz in der Stadt groß geschrieben wurde, blieben wir auch nicht vor Stromausfall verschont.
Und dass, obwohl fast jedes Haus eine Photovoltaikanlage besaß und außerhalb der Stadt sehr viele Windräder waren.
Die dadurch gewonnene Energie floss dann in den Energiebedarf der Stadt.
Irgendetwas schien die Stromzufuhr zur Stadt zu unterbrechen. Die Frage war nur was!
Oder vielleicht wer?
Ich schüttelte den Kopf. Es war sehr rätselhaft. Ich hoffte jedoch inständig, dass es bald für all dies eine plausible Erklärung gab.
Ein Blick durch das Fenster nach draußen sagte mir, dass es schon spät war, denn es fing an zu dämmern.
Ich trank meinen Kaffee aus und setzte mich wieder vor dem PC und arbeitete noch einige Artikel aus, die ich dann an meinem Chef weiterleitete.
Ich wollte schon den PC herunterfahren, als mir der Gedanke kam, meinen Eltern eine Mail zu schicken, um mich nach deren Befinden zu erkundigen.
Beide waren eigentlich Wissenschaftler. Mein Vater war Astrophysiker und meine Mutter Chemikerin. Da ihre Jobs sehr stressig waren, hatten sie vor einigen Jahren beschlossen, alles hinzuschmeißen und auszuwandern. Sie kaufen sich in Pennsylvania eine große Farm und begannen mit Ackerbau und Viehzucht. Sie waren damit so erfolgreich, dass sie fast alle benötigten Lebensmittel selbst erzeugten und den großen Rest gewinnbringend weiterverkaufen konnten.
Es ist ihnen sogar gelungen, guten Kontakt zu einem Dorf in dem Amishpeople lebten, zu knüpfen. Von der Ideologie her harmonierten meine Eltern sehr mit deren Ansichten. Zumindest was die Friedfertigkeit und ein harmonisches Miteinander anbelangt. Allerdings lehnten meine Eltern keineswegs die modernen Errungenschaften ab.
Sie hatten für sich einen guten Mittelweg gefunden. Ein beschauliches Farmerleben, fernab jeglicher Hektik.
Auch wenn die Arbeit auf der Farm durchaus anspruchsvoll und hart war, unterschied sie sich doch erheblich vom allgemeinen Stress in der Wirtschaft und dem lauten, unruhigen Leben in der Stadt. Ganz zu schweigen von der mitunter erheblich belasteten Luft in der Stadt.
Alles in allem hatten die Beiden es nie bereut, ausgewandert zu sein. Sie waren nur sehr traurig darüber gewesen, dass ich nicht mit ihnen auswandern wollte.
Für mich war die Vorstellung, mein Leben in einer einsamen, weitläufigen Gegend zu verbringen, etwas horrormäßig.
Ich loggte mich in meinem PC ein und rief das Email Programm auf.
Da sich in den letzten Tagen die Ereignisse so überschlagen hatten, war ich nicht dazu gekommen, meine Mails abzufragen. Natürlich waren auch hier viele angekommen. Trotz Spamfilter waren darunter wieder viele Mails für den Papierkorb. Ich überflog rasch die Mails und stellte dabei fest, dass meine Eltern mir schon zuvorgekommen waren.
Ich öffnete ihre Mail und las sie.
Wie üblich fragten sie nach meinem Wohlbefinden. Besorgt wollten sie wissen, ob sich der merkwürdige Virus auch schon in unserer Stadt ausgebreitet hätte.
Ein Saisonarbeiter namens Henry Flint, hatte ihnen von einem Virus berichtet, der das Gehör außer Gefecht setzte. Auch sein Gehör war davon betroffen.
Er war wie viele andere Amerikaner nicht krankenversichert. Da er wusste, dass ein befreundeter Arzt die Arbeiter meiner Eltern behandelte, wenn ihnen etwas fehlte, hatte er sich zu ihnen auf dem Weg gemacht.
Allerdings konnte der Arzt nichts Ungewöhnliches an den Ohren feststellen.
Weiter schrieben sie, dass es ihnen gut gehe und dass sie alle aufgetauchten Probleme bislang größtenteils lösen konnten. Außerdem baten sie mich, doch zu ihnen zu kommen, damit ich nicht versehentlich in eine gefährliche Lage geriet, da doch im Moment in vielen Ländern und Städten eine Ausnahmesituation herrschte, die durchaus als bedrohlich einzuschätzen war.
Ich dachte an meine Erlebnisse der vergangenen Tage und schmunzelte.
Ihre Sorge war nicht ganz unberechtigt. Aber ich war bislang glimpflich davon gekommen.
Ich grinste in mich hinein und dachte:
„Eltern sein bedeutet eindeutig, dass man sich immer Sorgen um den Nachwuchs macht – unabhängig vom Alter.“
Es wunderte mich nur, warum meine Eltern kaum Probleme hatten. Lag es daran, dass sie weit draußen auf einer Farm lebten?
Wie dem auch sei, ich war froh, dass es ihnen gut ging.
Natürlich hatte ich nicht vor, dort hinzureisen. Was sich aufgrund des ständigen Stromausfalles sowieso als unmöglich erweisen würde.
Dann berichteten sie mir von diversen technischen Problemen mit ihren Geräten und Fahrzeugen. Allerdings waren sie auch hier sehr optimistisch, alles schnell wieder im Griff zu bekommen.
Ich seufzte. Es schien so, als wären alle Vorfälle global zu sehen. Ich schüttelte meinen Kopf. Schon seltsam, man könnte fast glauben, dass da einer am Knopf dreht und die Welt steht Kopf! Aber das war ja wohl eher unwahrscheinlich, oder?
Ich schaute auf die Uhr. Schon wieder war es sehr spät und ich merkte, wie die Müdigkeit eine feindliche Übernahme meines Körpers vorbereitete. Ich fuhr den PC herunter, schnappte mir meine Jacke und verließ mein Büro, hob noch grüßend die Hand als ich am Büro meines Chefs vorbeikam, der immer noch fleißig arbeitete. Er nickte mir müde zu. Auch bei ihm hinterließen die vielen Überstunden so langsam aber sicher ihre Spuren.
Ich trat in die klare Abendluft und atmete tief ein, dann schloss ich mein Rad auf und radelte geradewegs nach Hause.
Während die Müdigkeit einen Kampf mit meinem Magen ausfocht, wobei der Magen eindeutig als Sieger hervorging, machte ich mir mein Abendbrot. Ich schaltete meinen Fernseher an, der es allerdings vorzog, in Ruhestellung zu bleiben. Ich zuckte mit den Schultern. Na, dann eben nicht! Radio hören, war ja im Moment auch nicht so ergiebig, mangels fehlendem Hörvermögen. So blätterte ich während des Essens die Zeitung durch und legte mich danach ins Bett.
Mein Kopf pochte. Ich schlug die Augen auf und massierte mir mit den Fingern die Stirn. Entsetzliche Kopfschmerzen hatten mich aus dem Schlaf gerissen. Vorsichtig richtete ich mich im Bett auf. Ich hatte das Gefühl, das mein Kopf jeden Moment platzen würde. Ich schaltete meine Nachttischlampe ein, um aufzustehen und mir eine Aspirin zu holen. Allerdings blieb die Lampe dunkel. So tastete ich mich vorsichtig durch mein Schlafzimmer zur Tür. Routinemäßig versuchte ich die Deckenbeleuchtung anzuknipsen. Logischerweise zog auch sie es vor, dunkel zu bleiben. So blieb mir nichts anderes übrig, als die Jalousien hochzuziehen und das Licht des Mondes hereinzulassen, damit wenigstens etwas Licht in dem Raum drang. In der Küche hatte ich eine Kramschublade, in der sich auch eine Taschenlampe befand. Diese fischte ich heraus und schaltete sie ein. Ich seufzte innerlich. Wenigstens ließ sie mich nicht im Stich. Mit ihrer Hilfe suchte ich aus meiner kleinen Apotheke eine Kopfschmerztablette heraus. Ein Glas Wasser sorgte dafür, dass die Tablette zügig in den Magen rutschen konnte. Ich überlegte, ob ich mich wieder hinlegen oder vielleicht einen kleinen Sparziergang an der frischen Lust machen sollte. Da ich inzwischen hellwach war, entschied ich mich für den Sparziergang. Ich zog mir meinen Trainingsanzug an, schnappte mir meinen Wohnungsschlüssel und ging auf die verlassene Straße hinaus. Mein Kopf fühlte sich an, als würden tausend Nägel auf einmal hineingeschlagen. Ich atmete tief durch. Obwohl es sternenklar war und der Mond am Himmel strahlte, als wäre er die Sonne persönlich, hatte ich das Gefühl, dass die Luft ungewöhnlich feucht war. Ich schaute zum Himmel empor, – wobei mein Kopf sich dabei gerade von meinem Hals verabschieden wollte – und spürte, wie mein Gesicht feucht wurde, obwohl ich keine Wolken am Himmel entdecken konnte.
Komisch!
Naja, vielleicht war es die Kühle der Nacht, die für die Nässe verantwortlich war. Vorsichtig senkte ich meinen Kopf, als ich mit dem Augenwinkel einen Schatten am Himmel bemerkte. „Nanu“, dachte ich. „Gibt es doch noch Flugzeuge, die fliegen können?“
Angestrengt blickte ich nach oben. Aber ich sah nur einen großen Schatten, der sich in großer Höhe langsam fortbewegte. Mein Kopf schmerzte dermaßen, dass ich keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Ich schlich durch die Nacht, in der Hoffnung, dass die feuchte Luft meine Schmerzen lindern würde. Aber irgendwie hatte ich das Gefühl, dass es schlimmer wurde. Darum beschloss ich, wieder in meine Wohnung zurückzukehren. Auf dem Rückweg erfasste mich eine unerklärliche Schwermut und Hoffnungslosigkeit. Eigentlich völlig untypisch für mich. Normalerweise – so schätzte ich mich zumindest ein – war ich im Grunde eine Frohnatur, realitätsnah und mit beiden Beinen fest im Leben.
Gut, mein Liebesleben hatte im Moment eine kleine Pause, aber das machte mir nicht viel aus. Dabei dachte ich an Anja und hoffte, dass die Pause bald zu Ende sein würde. Eigentlich sah ich in allen Dingen eher das Positive.
Trotzdem ergriff mich plötzlich eine Resignation und Niedergeschlagenheit. Ich wünschte mir, dass alles vorbei wäre. Ich dachte an den Tod. Die wahnsinnigen Kopfschmerzen wären vorbei die Taubheit der Ohren spielte dann auch keine Rolle mehr. Alles wäre leicht und unbeschwert und ich brauchte mir über nichts mehr den Kopf zu zerbrechen.
Vor meinem Auge tauchten Bilder von verstorbenen Menschen auf, die ich gekannt hatte und mir nun zuwinkten, als würden sie sagen:
„Komm doch endlich zu uns!“
Ich strich mir durch das Gesicht und atmete tief ein. Jetzt begann ich auch noch, herum zu spinnen. Ich beschleunigte meine Schritte, wobei mir das Atmen schwer fiel. Irgendwie signalisierte mir meine Nase, dass etwas an mir unangenehm roch. Ich schnupperte an meinen Händen und verzog das Gesicht.
Puh, was war das denn? Meine Nase protestierte lautstark und nieste kräftig vor sich hin. Mein Hals machte sich durch ein Kratzen bemerkbar. Auch mein Magen meinte, seinen Senf dazu beitragen zu müssen. Es war vielleicht doch keine gute Idee gewesen, nach draußen zu gehen. Irgendwie war die Luft komisch. Während ich zurückging, fühlte sich mein Kopf bei jedem Schritt an, als würde eine ganze Arbeiterkolonne mit Presslufthämmern meine Nerven ohne Betäubung bearbeiteten.
Ich war froh, als ich meine Wohnung wieder erreichte hatte. Da ich ständig niesen musste, beschloss ich – trotz meiner Übelkeit und extremer Lustlosigkeit – zu duschen, da ich das unbestimmte Gefühl hatte, dass mir das helfen würde. Allerdings war das nicht ganz so einfach, im Dunkeln zu hantieren. Ich versuchte meine Taschenlampe so hinzustellen, dass ich wenigstens etwas sehen konnte. Als das warme Wasser auf mich herabrieselte, fühlte ich mich zunehmend besser. Ja, sogar die Kopfschmerzen ließen nach. Irgendetwas schien in der Luft zu sein, was all meine Beschwerden verursachte. Als ich die Dusche verließ, schloss ich als erstes sämtliche Fenster und suchte mir einen Mundschutz aus meinem Fundus.
Seit der Schweinegrippe vor zwei Jahren hatte ich mich mit solchen Dingen eingedeckt.
Ich dachte an die Flugreise, die ich damals gemacht hatte. Die Hälfte der Passagiere im Flugzeug hustete und ich hatte große Befürchtungen, mich anzustecken. Als ich wieder zuhause war, kaufte ich mir einige Mundschutze, um vorbereitet zu sein.
Ich kam mir zwar etwas blöd vor, in meiner Wohnung so etwas zu tragen, aber wie sagt man so schön:
„Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste.“ Außerdem sah mich niemand. Tatsächlich besserte sich mein Wohlbefinden nach und nach. Allerdings breitete sich eine große Erschöpfung in mir aus. Nachdem ich mit letzter Kraft meine Sachen, die ich zuvor getragen hatte, mit zwei Finger in den Wäschekorb geworfen hatte, um sie am nächsten Tag in die Waschmaschine zu packen, legte ich mich in mein Bett und schlief augenblicklich ein.