November 5

Nit

Nit

Es war einmal ein älteres, kinderloses Ehepaar. Sie bewohnten eine kleine Wohnung in einem großen Mietshaus. Ihre Rente war klein, sodass sie sich nicht viele Wünsche erfüllen konnten. Ihr Alltag plätscherte farblos dahin, wie das Wasser eines großen Flusses, dass sich monoton durch das Flussbett quält.

Eines Tages machte die Frau ihrem Mann den Vorschlag, sich einen kleinen Hund zuzulegen.

Ihr Mann schaute vom Fernseher auf, in dem gerade eine Sendung über getunte Autos lief und fragte sie, warum sie unbedingt einen Hund haben wolle. Daraufhin erklärte seine Frau ihm, dass ihr Leben zu eintönig sei. Sicherlich würden sie dann regelmäßig spazieren gehen, träfen andere Leute mit Hunden, würden sich mit ihnen unterhalten und der Tag bekäme einen neuen Sinn und wäre nicht so langweilig.

Der Mann seufzte und meinte, dass er eigentlich ganz zufrieden sei, so wie es jetzt war, denn seit seinem letzten Herzinfarkt war er sehr träge und häuslich geworden. Doch er willigte ein, denn er wollte, dass seine Frau glücklich war. So machten sie sich am nächsten Tag auf und gingen zum nächsten Tierheim.

Dort herrschte ein munteres Treiben. Die Tierpfleger huschten von einem Käfig zum nächsten, um die Tiere zu füttern, die sich mit lautem Gebell bemerkbar machten. In einem der Käfige saß ein kleiner, pechschwarzer Hund und schaute mit traurigen Augen durch die Gitterstangen. Die Frau verlor sofort ihr Herz an dieses kleine Geschöpf. Die Tierpflegerin, die die beiden durch die Räume geführt hatte, meinte daraufhin, dass es noch ein sehr junger Hund sei, der noch dressiert und erzogen werden müsse.

Doch die Frau erwiderte nur freudig, sie würde sich gerne um alles kümmern. Ihr Mann zuckte ergeben mit den Schultern und so war es eine beschlossene Sache, diesen Hund mitzunehmen. Nach den notwendigen Formalitäten schloss die Frau Nit, so hieß der kleine Hund überglücklich in die Arme und drückte ihn an sich.

Liebevoll sorgte die Frau sich um Nit, der sehr klug und lernwillig war. Durch ihn wurde der Alltag wieder bunter und lebhafter. So vergingen zwei Jahre. Nit war zu einem stattlichen Hund herangewachsen, sehr zum Missfallen des Hausmeisters, der überhaupt keine Hunde mochte. Doch jener hatte keine Handhabe, etwas gegen Nit zu unternehmen, da in dem Haus Hunde erlaubt waren.

Eines Tages machte das Ehepaar, wie immer seit Nit bei ihnen wohnte, ihren üblichen Spaziergang im Stadtpark. Die Frau fühlte sich seit einiger Zeit nicht sehr wohl, doch sie ignorierte dieses, denn sie genoss die gemeinsamen Sparziergänge sehr. Plötzlich stolperte sie über eine Baumwurzel, die sie übersehen hatte und stürzte. Sie schrie auf vor Schmerzen. Zum Glück hatte ihr Mann sein Handy eingesteckt und rief sofort den Krankenwagen. Auf Bitten des Mannes hin durfte er im Krankenwagen mitfahren. Als Nit, der wie immer mit anderen Hunden herumtobte, zurückkam, fand er weder sein Herrchen noch sein Frauchen. Verwirrt schaute er sich um und machte sich auf der Suche nach ihnen. Seine Nase suchte den Boden ab, doch die Spur endete abrupt an einer Stelle, die nach Abgasen roch, was ihn zum Niesen brachte. Er hob den Kopf und entdeckte einen Hasen, der Hakens schlagend über die Wiese lief. Bellend verfolgte er ihn und vergaß, dass er seine Besitzer vermisste. Er streunte durch den Wald bis es dunkel wurde. Sein Magen erinnerte ihn irgendwann daran, dass er fressen musste. So kehrte er zurück zu der Stelle, wo er immer frei gelassen wurde. Doch niemand wartete dort auf ihn. Traurig setzte er sich hin und wartete. Sein Magen knurrte. Er stand wieder auf und schnupperte in dem nächsten Papierkorb. Dort fand er ein weg geworfenes Stück Brot, dass er fraß. Natürlich machte es ihn nicht satt, darum schnüffelte er suchend umher, um noch etwas zu finden. Inzwischen war es so dunkel geworden, dass er nichts mehr sehen konnte. Darum suchte er sich eine geschützte Stelle, rollte sich zusammen und schlief. Es dauerte fast eine Woche, bis er den Weg nach Hause gefunden hatte.

Überglücklich erblickte er das vertraute Mietshaus. Er lauerte auf den Augenblick, wo die Eingangstür aufging, damit er hinein huschen konnte. Als ein Kind herauskam, sauste er so schnell er konnte die Treppe hinauf und sprang bellend an die Wohnungstür. Doch niemand öffnete. Er kratzte mit seinen Tatzen und bellte und jaulte, doch die Tür blieb verschlossen. Dafür öffnete sich die Tür vom Hausmeister, der wütend hinausschaute und den Hund anfuhr. Nits Nackenhaare sträubten sich, denn natürlich spürte er sofort die Feindseligkeit, die dieser unangenehme Mensch ausstrahlte. Nit drückte sich an die Wohnungstür und hoffte sehnlich, dass sie sich öffnet. Stattdessen trat der Hausmeister ganz aus seiner Wohnung heraus, scheuchte Nit von der Tür weg und öffnete sie mit einem Schlüssel. Sofort drängelte sich Nit an ihn vorbei in die Wohnung. Sein Schwanz wedelte freudig, während er von einem Raum in den nächsten lief. Doch es war niemand da. Der Hausmeister ergriff Nits Leine und befahl ihm zu kommen. Nit schaute ihn skeptisch an und blieb auf Abstand. Daraufhin ging der Hausmeister in die Küche und suchte nach Futter für Nit. Als er es gefunden hatte, schüttete er es in den Fressnapf. Da Nit ziemlich ausgehungert war, stürzte er sich sofort darauf. Der Hausmeister ließ ihn alles auffressen und schaffte es dann, Nit die Leine anzulegen, in dem er ihn mit freundlichen Worten bedachte. Die beiden verließen die Wohnung wieder und der Hausmeister verfrachtete Nit in sein Auto. Dann fuhr er mit ihm zu einem großen Waldgebiet. Dort stieg er aus und ging mit Nit an der Leine tief in den Wald hinein. Als der Hausmeister der Meinung war, dass dort selten ein Mensch hinkommen würde, band er die Leine an einem Baum fest, gab Nit einen Tritt und lachte höhnisch und verschwand.

Nit jaulte und versuchte, loszukommen, doch die Leine gab nicht nach. So verging der Tag und es wurde Nacht. Als ein neuer Tag anbrach, versuchte Nit wieder vergeblich, sich zu befreien. Verzweifelt riss er an die Leine, sodass das Halsband ihm die Kehle zuschnürte und er kaum Luft bekam. Er bellte und jaulte. Doch niemand hörte ihn. Wieder verging der Tag, ohne dass er Hilfe bekam. Sein Magen schmerzte inzwischen vor Hunger, aber der Durst war noch schlimmer. Als wieder ein Morgen graute, fing er an, seine Leine zu zerbeißen. Sein Maul war so trocken, dass ihm jeder Biss schmerzte. Doch es gelang ihm, sie durchzubeißen. Glücklich, endlich nicht mehr gefangen zu sein, schnüffelte er in die Luft. Er hatte Durst. Wo gab es Wasser? Er spitzte die Ohren, um das Geräusch von fließendem Wasser zu hören. Doch er hörte nur das Zwitschern der Vögel hoch in den Bäumen. Müde und schlapp bahnte er sich den Weg durch das Gestrüpp. Immer wieder verfing sich der Rest der Leine an einem Ast, sodass er ziehen musste, um weiter zu kommen. Aus weiter Ferne hörte er ein Grollen. Dann wurde es taghell und ein Blitz zuckte am Himmel, gefolgt von einem gewaltigen Donner. Er jaulte vor Schreck auf und kroch unter einem Busch. Kurz darauf prasselte der Regen auf die Bäume. Doch nur wenige Tropfen schafften es den Weg durch das dichte Laub der Bäume auf die Erde. Nit leckte die feuchten Blätter ab, die sanft zum Boden segelten. Als das Gewitter abgezogen war, traute sich Nit aus seinem Versteck hervor und lief weiter. Auf einer Lichtung blieb er stehen und schnüffelte. Er roch Wasser. Er folgte seiner Nase und entdeckte eine vom Regen gebildete Pfütze. Gierig trank er und löschte seinen Durst. Doch er hatte immer noch bohrenden Hunger. Zwei kleine, junge Hasen hoppelten auf die Lichtung und spielten in den letzten Sonnenstrahlen des Tages miteinander. In Nit erwachte der Jagdinstinkt. Er duckte sich und beobachtete die beiden. Als einer der Hasen ihm zu nahe kam, schoss er hoch und packte ihn im Nacken. Mit einem Biss brach er dem kleinen Hasen das Genick. Der andere Hase flitzte entsetzt ins Gebüsch. Heißhungrig verschlang Nit seine Beute. Nit streunte durch den Wald, immer auf der Suche nach Futter und nach einem Weg zurück nach Hause.

So vergingen Wochen. Sein Fell war inzwischen stumpf und glanzlos. Seine Flanken waren eingefallen, sein Hals so dünn geworden, dass er sich das Halsband mit den Pfoten abstreifen konnte.

Eines Tages hörte er eine leise weinerliche Stimme. Er spitzte seine Ohren und folgte dem Geräusch. Ein kleiner Junge war unter einem umgestürzten Baum gekrabbelt und steckt nun fest. Er konnte sich nicht aus eigener Kraft befreien. Nit ging zögernd auf ihn zu. Er betrachtete das hilflose Kind, doch er konnte ihn natürlich nicht befreien. Aufgeregt lief Nit hin und her. Was konnte er tun? Dieser Junge erinnerte ihn an sein altes Leben. An die vielen Spaziergänge mit seinem Herrchen und Frauchen. An lachende Kinder, die mit den Hunden spielten. Doch dieses Kind lachte nicht, es weinte. Nit spürte die Verzweiflung. Vorsichtig näherte er sich. Der Junge streckte seine Arme aus und sprach ihn an. Aus jedem Ton konnte Nit pure Angst erkennen. Doch er spürte, dass nicht er der Grund war. Da es dunkel wurde und die Nächte inzwischen kalt waren, legte Nit sich behutsam zu dem Jungen, um ihn zu wärmen. Das Kind schlang seine Arme um ihn und beruhigte sich. So verging die Nacht und der nächste Tag brach an. Der kleine Junge weinte wieder.

Plötzlich hörte Nit Stimmen. Sie klangen verzweifelt. Nit richtete sich auf. Sein Instinkt sagte ihm, dass diese Stimmen den kleine Jungen suchten. Er bellte so laut er konnte, doch die Stimmen wurden immer leiser und entfernten sich von ihnen. Er wurde unruhig. Sollte er den Stimmen folgen oder beim Kind bleiben. Er hob seine Schnauze in die Höhe und heulte herzzerreißend. Dann sprang er mit einem Satz auf und jagte in den Wald hinein, den rufenden Stimmen hinterher. Als er sie endlich erreicht hatte, bellte er und machte auf sich aufmerksam. Doch die Reaktion der suchenden Menschen war anders, als er erwartet hatte. Einige ignorierten ihn und andere warfen Stöcke oder was sie auf den Boden fanden nach ihm, um ihn zu vertreiben. Er jaulte und bellte weiter. Eine Frau blieb stehen und sah ihn stirnrunzelnd an. Dann ging sie auf Nit zu und sprach ihn mit sanfter Stimme an. Nit hörte, wie ein Mann die Frau warnte nicht weiterzugehen, doch sie beachtete ihn nicht. Sie sprach weiter auf Nit ein und fragte ihn, ob er ihren Sohn gesehen hätte. Nit bellte und machte kehrt und lief ein Stück zurück. Dann blieb er stehen und schaute, ob sie ihm folgte. Doch sie war stehen geblieben und schaute nur ratlos zu ihm hin. Nit rannte auf sie zu, machte kurz vor ihr kehrt und lief wieder ein Stück zurück. Dann blieb er wieder stehen, um zu schauen, ob sie ihm folgte. Doch nun hatte sie begriffen und folgte ihm. Der Mann, der sie vor ihm gewarnt hatte, rief besorgt hinter ihr her, doch sie nahm es nicht mehr wahr sondern rannte nun so schnell sie konnte hinter Nit her, der bellend voraus lief. Immer wieder musste Nit warten, damit die Frau ihn nicht aus den Augen verlor. Endlich erreichten sie den kleinen Jungen, der leise vor sich hin weinte. Doch als er die beiden erblickte, strahlte sein Gesicht vor Freude. Er drückte Nit, der schwanzwedelnd zu ihm lief, fest an sich. Die Frau gab einen Freudenschrei von sich und kniete sich glücklich zu ihrem Sohn. Vergeblich bemühte sie sich, ihren Sohn aus der misslichen Lage zu befreien. So zog sie letztendlich ihr Handy heraus und telefoniert aufgeregt, um die Suchenden zu informieren. Allerdings schaute sie ratlos um sich, als sie gefragt wurde, wo sie sich befinden würde. Sie hatte nämlich, als sie Nit folgte, nicht auf den Weg geachtet. Liebevoll streichelte sie Nit und bat ihn, die anderen zu suchen und ihnen den Weg zu zeigen. Nits kluge Augen schauten sie an. Dann bellte er und verschwand. Voller banger Hoffnung schaute die Frau hinter Nit her. Dann umarmte sie wieder ihren Sohn und tröstete ihn, denn er war wieder angefangen zu weinen, da ihm sein Fuß sehr weh tat. Kriechend verging die Zeit, die Bäume warfen schon lange Schatten, als die beiden das Gebell des Hundes hörten. Das Herz der Frau klopfte bis zum Hals. Hatte der Hund es tatsächlich geschafft, die anderen hier herzubringen?

Unter eilenden schweren Schritten knackte morsches Holz. Dann erblickte die Frau ihren Mann. Mit Tränen erfüllten Augen deutete sie auf ihren Sohn. Der Mann schaffte es, den Sohn unter dem Baum hervorzuziehen. Der kleine Junge schrie vor Schmerzen, als der Fuß dadurch bewegt wurde. Offensichtlich hatte er ihn gebrochen. Mühelos nahm der Mann seinen Sohn auf den Arm und so verließen sie den Wald, begleitet von Nit. Denn natürlich hatten sie es sich nicht nehmen lassen, ihn aufzufordern, ihnen zu folgen. Schließlich war Nit der Retter ihres Sohnes gewesen.

Von nun an lebte Nit bei dieser Familie, die ein großes Anwesen hatte. Sein Fell war mit der Zeit wieder glänzend geworden und durch die gute Pflege waren alle seine Verletzungen, die er sich während seiner Zeit in dem Wald zugezogen hatte, verheilt.

Eines Tages machte die Familie einen Ausflug zum Stadtpark. Plötzlich blieb Nit stehen und hob witternd seine Nase. Dann zog er heftig an seine Leine, sodass der kleine Junge ihn kaum halten konnte. Halb stolpernd, halb rennend folgte er Nit, der abrupt vor einer Bank stehen blieb, auf dem ein älteres Ehepaar saß. Nit sprang freudig um diese Leute herum, leckte sie und konnte sich nicht wieder beruhigen. Auch das Ehepaar strahlte und klatschte sich vor Freude in die Hände. Als die Eltern des Jungen die Bank erreichten, wollten sie sich für das Benehmen des Hundes entschuldigen, doch das Ehepaar erzählte ihnen, dass der Hund ihnen gehöre und sie ihn schon lange suchen würden. Bedauerlicherweise war Nit im Park geblieben, als die Frau einen Unfall hatte. Da der Mann durch den Unfall seiner Frau eine erneute Herzattacke bekommen hatte und so beide längere Zeit im Krankenhaus bleiben mussten, hatten sie den Hausmeister gebeten, den Hund zu suchen und sich um ihn zu kümmern. Doch nach der Aussage des Hausmeister konnte er Nit nicht finden. Darum waren sie jeden Tag in den Park gegangen und hatten sich immer wieder auf die Bank gesetzt, auf der sie gesessen hatten, wenn sie mit Nit im Park waren, in der Hoffnung, dass er eines Tages wieder auftauchen würde. Und nun war das Wunder geschehen.

Der Vater des Jungen fand es seltsam, dass Nit, der ein sehr schlauer Hund war, nicht zurückgefunden haben sollte. Allerdings sagte er nichts, sondern beschloss, den wahren Grund für das nicht wieder auftauchen des Hundes herauszufinden. Dies gelang ihm auch, nachdem er Zeugen gefunden hatte, die ihm seinen Verdacht bestätigten, dass der Hausmeister mit dem Hund gesehen worden war. Nachdem er den Hauswart mit seinem Wissen konfrontiert hatte, gab er zu, den Hund ausgesetzt zu haben. Der Vater zeigte ihn natürlich an und er musste eine Geldstrafe zahlen, sowie etliche Stunden im Tierheim arbeiten.

Damit der Junge, der inzwischen auch sehr an Nit hing, sich nicht von ihm trennen musste, bedurfte es eine Lösung. So schlug der Vaters des Jungen dem Ehepaar vor, in der leer stehenden Wohnung auf seinem großen Anwesen einzuziehen. Nach anfänglichem Zögern stimmte das Ehepaar zu und so lebten sie gemeinsam zufrieden bis ans Ende ihrer Tage.